Der Herbst hat kaum begonnen, da wird schon unser Winter verplant:
„Bundesgesundheitsminister Spahn hat eine neue Strategie für den Winter angekündigt. […] Spahn zeigte sich besorgt über die Dynamik der Corona-Infektionen in Frankreich, den Niederlanden und Spanien. Insbesondere in Spanien sei die Situation entglitten und nicht mehr unter Kontrolle, sagte er.“ [1]
Immer soll man woanders hinsehen als auf die einheimischen Zahlen – außer nach Schweden, selbstverständlich. Bevor es wie verlangt um „die Dynamik der Corona-Infektionen in Frankreich, den Niederlanden und Spanien“ geht, soll eine Graphik mit den europäischen Daten seit Januar [2] die Gesamtsituation verdeutlichen. Dargestellt sind (in blau) die positiv getesteten „Fälle“, denen (in rot) Todesfälle, die mit COVID-19 in Verbindung gebracht werden, entgegenstehen. Im Laufe des Sommers ist die Zahl der positiv Getesteten auf den Höchststand vom Frühling zurückgekehrt, aber ohne einen entsprechenden Anstieg der Todeszahlen. In Europa geht eine „Falldemie“ (von englisch „casedemic“) um, die dadurch charakterisiert ist, aus „Fällen“, also positiv Getesteten zu bestehen – mehr nicht. Da der neue Anstieg durch einen Anstieg der durchgeführten Tests zustande kommt, könnte man dieses Phänomen auch als Test-Epidemie bezeichnen.
„Falldemie“ in Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Deutschland
Die weiteren Graphiken [3] sind entsprechende Darstellungen für Frankreich, Spanien, die Niederlande und Deutschland vom 5. September 2020, die „Fälle“ („cases“) sind oberhalb der roten Linie dargestellt, die mit COVID-19 in Verbindung gebrachten Todesfälle unterhalb. Überall war im Mai die „Epidemie vorbei“ und in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland gibt es aktuell wenige Kranke und wiederum davon wenige, die eine Intensivbehandlung benötigen sowie (fast) keine Todesfälle, in Spanien sind die Auswirkungen minimal. Eine Epidemie sieht anders aus.
Da diese Graphiken nicht mehr ganz aktuell sind, gibt es nachfolgend noch einige weitere zu den vier Ländern, die am 22.9.2020 abgerufen wurden [4]:
1. die täglichen Fallmeldungen pro Million
2. die täglichen Todeszahlen pro Million (die Niederlande verschwinden wegen der gleich niedrigen Daten hier optisch hinter Deutschland)
3. die täglichen Testzahlen pro 1000
4. der Anteil der täglichen Tests, die positiv sind (Positivrate)
Üblicherweise werden Fallmeldungen, Todes- und Testzahlen in absoluten Werten angegeben (z.B. bei den täglichen Meldungen vom Robert-Koch-Institut RKI), wurden hier aber relativ zu einer Bezugsgröße (Million Menschen bzw. tausend Tests) dargestellt, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen.
Zum besseren Verständnis, was in den verschiedenen Ländern ein „Fall“ ist und inwieweit die Zahlen und Kurven überhaupt miteinander vergleichbar sind, ist ein Blick in die jeweiligen Falldefinitionen notwendig.
Frankreich: „Cas confirmé“
„Bestätigter Fall
Jede Person, ob symptomatisch oder nicht, mit einem Laborergebnis, das eine Infektion mit SARS-CoV‑2, durch RT-PCR oder durch Serologie als Teil einer Nachholdiagnose gemäß den HAS[Haute Autorité de Santé]-Empfehlungen bestätigt“ [5]
In Frankreich existiert eine Liste zugelassener serologischer Tests, die auf IgM und/oder IgG testen. Dies sind zwei Antikörperklassen, die sich u.a. in der Geschwindigkeit ihres Auftretens und ihres Verschwindens unterscheiden:
„Anfänglich bilden sich Antikörper der IgM-Klasse, später folgen IgG-Antikörper. Die IgM-Antikörper verschwinden innerhalb weniger Wochen, während die IgG-Antikörper jahrelang bestehen bleiben. Die serologische Diagnosestellung einer Virusinfektion erfolgt demnach durch den Nachweis eines Titeranstieges der Antikörper gegen das Virus oder den Nachweis antiviraler Antikörper in der IgM-Klasse.“ [6]
Für den Nachweis einer akuten Erkrankung käme lediglich IgM in Frage, und das auch nur eingeschränkt, da ein Verschwinden „innerhalb weniger Wochen“ in vielen Fällen eine tatsächliche Krankheitsdauer weit übersteigen würde. Ein IgG-Nachweis wäre für eine solche Fragestellung ohnehin völlig unbrauchbar. Vermutlich gehen auch die Ergebnisse der serologischen Tests als „bestätigte Fälle“ in die Fallstatistiken ein; wirklich klare Angaben waren leider nicht auffindbar.
Spanien: „Caso confirmado“
„Bestätigter Fall mit aktiver Infektion:
– Person, die die klinischen Kriterien für einen Verdachtsfall erfüllt und eine positive PCR hat.
– Person, die klinische Kriterien für einen verdächtigen Fall erfüllt, mit negativer PCR und positivem Ergebnis für IgM durch Hochdurchsatz-Serologie (nicht durch Schnelltests).
– Asymptomatische Person mit positiver PCR mit negativem oder nicht durchgeführtem IgG
mit gelöster Infektion:
– Asymptomatische Person mit positiver IgG-Serologie unabhängig vom PCR-Ergebnis (PCR-positiv, PCR-negativ oder nicht durchgeführt).“ [7]
Unter den Fallstatistiken findet sich folgende Angabe:
Entsprechend wird seit dem 11. Mai in die Fallstatistik aufgenommen, wer als „Bestätigter Fall mit aktiver Infektion“ klassifiziert wurde, also mit oder ohne Symptome PCR-positiv ist und mit Symptomen einen positiven IgM-Antikörpertest hat (bis zum 10. Mai wurde nur die PCR berücksichtigt). [8]
Niederlande: „Bevestigde patiënt“
„Bestätigter Patient
Jede Person, bei der eine SARS-CoV-2-Infektion durch validierte PCR oder einen anderen Nukleinsäureamplifikationstest diagnostiziert wurde.“
Zur PCR gab es diese Zusatzangabe:
„Die bisher für SARS-CoV‑2 verwendeten PCR-Assays zielen auf zwei Ziele ab: das E‑Gen und das RdRP-Gen. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen kann davon ausgegangen werden, dass nur das E‑Gen getestet wird. Die Amplifikationskurve muss ordnungsgemäß bewertet werden (insbesondere bei einem Ct> 30). Wenn die Kurve abnormal, unzuverlässig oder schwer zu interpretieren ist oder wenn ein epidemiologisch unerwartetes positives Ergebnis vorliegt, beispielsweise der erste Fall auf einer der Karibikinseln, ist eine Bestätigung erforderlich. Abhängig von der Empfindlichkeit der lokalen Implementierung kann dies mit der RdRP-PCR, durch erneutes Testen derselben Probe oder durch erneutes Abtasten des Patienten erfolgen. Außerdem sollte man sich immer noch falsch positiver Signale von Primern und Sonden bewusst sein, die mit der Kontrolle des synthetischen E‑Gen-Laufs kontaminiert sein können. Eine umfassende Vorabkontrolle bleibt daher von entscheidender Bedeutung (Corman 2020).“ [9]
Das E‑Gen ist das Gen, das die meisten unspezifischen Reaktionen hervorbringt, also am wenigsten darüber aussagt, ob eine Gensequenz von SARS-CoV‑2 oder etwas anderem amplifiziert wird. So sollte im Drosten/Landt-Testprotokoll das E‑Gen als „First line screening assay“ eingesetzt werden, dem eine zweistufige Bestätigung folgt. [10]
Deutschland: „Labordiagnostischer Nachweis“
Das RKI, das für Deutschland die Definitionsmacht hat [11], stützt sich in seiner Falldefinition ausschließlich auf das Labor:
„C. Klinisch-labordiagnostisch bestätigte Erkrankung
Spezifisches oder unspezifisches klinisches Bild von COVID-19 und labordiagnostischer Nachweis.
D. Labordiagnostisch nachgewiesene Infektion bei nicht erfülltem klinischen Bild
Labordiagnostischer Nachweis bei bekanntem klinischen Bild, das weder die Kriterien für das spezifische noch für das unspezifische klinische Bild von COVID-19 erfüllt. Hierunter fallen auch asymptomatische Infektionen.
E. Labordiagnostisch nachgewiesene Infektion bei unbekanntem klinischen Bild
Labordiagnostischer Nachweis bei fehlenden Angaben zum klinischen Bild (nicht ermittelbar oder nicht erhoben) […]
In Veröffentlichungen des Robert Koch-Instituts, die nicht nach Falldefinitionskategorien differenzieren (z.B. wöchentliche ‚Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten‘ im Epidemiologischen Bulletin), werden nur Fälle der Kategorie C, D und E gezählt.“ [12]
Wie dieser Nachweis aussehen soll, wird so präzisiert:
Labordiagnostischer Nachweis
Positiver Befund mit mindestens einer der beiden folgenden Methoden:
[direkter Erregernachweis:]
– Erregerisolierung (kulturell),
-►Nukleinsäurenachweis (z.B. PCR). [12]
Da die Viruskultur aufwendig ist und die PCR inzwischen routinemäßig zur Verfügung steht, ist klar, daß hier die PCR-Ergebnisse die Fallstatistik bilden. In den RKI-Vorgaben sind serologische Tests eben sowenig enthalten wie eine Begrenzung auf das E‑Gen bei der PCR (wie es in der Praxis aussieht, könnte sich unterscheiden, aber zur Beurteilung fehlen die Daten).
Tests, Statistiken und „Falldemien“
Wenn man die Testzahlen zugrunde legt (s.o. Graphik Daily new COVID-19 tests per 1,000 people), kommt man auf eine annähernd gleiche Anzahl von Tests: es sind 1,5 bis 2,5 Tests pro 1.000 Menschen im September, auch die Steigerungsraten sind etwa gleich.
Der Anteil der daraus hervorgegangenen positiven Tests dagegen (s.o. Graphik The share of daily new COVID-19 tests that are positive) variiert und ist dort, wo „bestätigte Fälle“ mit der PCR und serologischen Tests definiert werden (Frankreich, Spanien) in diesem Vergleich am höchsten; der Unterschied zwischen den Niederlanden und Deutschland könnte an den unterschiedlichen PCR-Vorgaben liegen. Diese uneinheitliche Handhabung findet Eingang in die nationalen Fallstatistiken und hat vermutlich auch Auswirkungen auf die Todesfall-Definition.
Aufgrund der vorhandenen Informationen sieht die Situation in den vier Ländern bezüglich der Tests und der Fallstatistiken so aus:
Wer in Frankreich einen positiven Test hat, hat ihn also nicht notwendigerweise auch in Spanien – wer in Spanien einen positiven Test hat, hat ihn nicht notwendigerweise auch in den Niederlanden – wer in den Niederlanden einen positiven Test hat, hat ihn nicht notwendigerweise auch in Deutschland – und wer hier einen negativen Test hat, könnte woanders positiv sein. Es gibt weitere Einflußgrößen auf die Anzahl der „Fälle“ wie die Qualität der Labordiagnostik, die Auswahl des Personenkreises, die Durchführung einer Differentialdiagnose, die Überprüfung der Testergebnisse, die Durchführung der PCR [13] etc., doch das sprengt den Rahmen dieses Textes.
Mangels klarer Informationen bleiben viele Fragen offen, was genau in diesen vier genannten Ländern geschieht. Das sollte man aber zugeben, statt alles – und dann auch noch für äußerst dubiose politische Ziele – gleichzumachen, was ungleich ist. Und ganz besonders sollte man zugeben, daß man es den ganzen Sommer über mit einer „Falldemie“ zu tun hatte.
Hervorhebungen in blau von mir
[1] Corona-Infektionen / Spahn kündigt Strategie für den Winter an (Deutschlandfunk 21.9.2020)
https://www.deutschlandfunk.de/corona-infektionen-spahn-kuendigt-strategie-fuer-den-winter.1939.de.html?drn:news_id=1175031
[2] https://twitter.com/JohnDStats/status/1306151141353369602
[3] Ivan Cummins, von dem auch der Begriff „Casedemic“ stammt, hat sehr viel zum Verständnis der Epidemiologie beigetragen, seine aktuelle – sehr empfehlenswerte – Zusammenfassung gibt es hier: https://twitter.com/FatEmperor/status/1303704826287718400
[4] https://ourworldindata.org/
[5] Définitiondecas d’infection au SARS-CoV‑2 (COVID-19)-Mise à jour le 07/05/2020
https://www.santepubliquefrance.fr/content/download/228073/file/COVID-19_definition_cas_20200313.pdf
[6] Serologische Diagnose und immunologische Aufklärung von Virusinfektionen
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978–3‑642–96397-1_29
[7] ESTRATEGIA DE DETECCIÓN PRECOZ, VIGILANCIA Y CONTROL DE COVID-19Actualizado 10 de septiembre de 2020
https://www.mscbs.gob.es/profesionales/saludPublica/ccayes/alertasActual/nCov/documentos/COVID19_Estrategia_vigilancia_y_control_e_indicadores.pdf
[8] https://diariosanitario.com/casos-positivos-coronavirus/
[9] Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu: COVID-19 Richtlijn
https://lci.rivm.nl/richtlijnen/covid-19
[10] Victor Corman et al.: Diagnostic detection of 2019-nCoV by real-time RT-PCR ‑Protocol and preliminary evaluationas of Jan 17, 2020-
https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/protocol-v2‑1.pdf?sfvrsn=a9ef618c_2
[11] SARS, COVID-19 und die Macht der Definition
https://corodok.com/sars-covid-definition/
[12] RKI: Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) (SARS-CoV‑2) vom 29.5.2020
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Falldefinition.pdf?__blob=publicationFile
[13] Cycling und Recycling der SARS-CoV-PCR
https://corodok.com/cycling-recycling-sars/
Ja aber die ganzen Spätfolgen von den symptomlosen.… Klabauterbach vermischt hier wieder schön irgendwelche Vermutungen mit tatsächlichen Daten: “ Stand der Forschung zu oft symptomlos verlaufenden #Covid-19: Herzschäden. Eine bislang unbekannt hohe Anzahl von Patienten entwickelt Herzentzündungen. Bei SarsCoV viel häufiger als bei Grippe, Dauerschäden nicht ausgeschlossen. Für Sportler sehr relevant.” (Quelle Karl Lauterbachs Facebook)